Hans Montag "Kabir"

Nachdem Fahima im ersten Band der Trilogie aus Afghanistan geflüchtet war und bei einer Pflegefamilie in Freising unterkam, zieht nun ihre Familie nach.
Sie wundern sich über den Reichtum, die Mentalität der Menschen, knappe Bekleidung und selbstbewusstes Auftreten der Frauen.
Fahima muss ihre Pflegefamilie verlassen und zu ihrer Familie in die beengten Verhältnisse einer Flüchtlingsunterkunft in Freising.
Traditionelle Werte sollen den Zusammenhalt der Familie gewährleisten, können es aber nicht. Fahima hat einen Freund den sie regelmäßig trifft, einen Freundeskreis, hat den westlichen Lebensstil übernommen, Ausgehverbote weiß sie geschickt zu umgehen. Ihr Onkel Ali, der mittlerweile ihr Stiefvater ist und in Afghanistan für die Bundeswehr gearbeitet hat, trifft sich heimlich mit seinem Liebhaber. Die Doppelrolle als Familienoberhaupt, Ehemann und Homosexueller belastet ihn zunehmend.

    Fahimas kleiner Bruder Kabir integriert sich zunächst gut, findet neue Freunde, lernt die Sprache. Doch ein Übergriff Rechtsgewandter, gefolgt von einer gegen ihn gerichteten Pressekampagne, bringt sein Leben gründlich durcheinander. Halt findet er bei Emre, der ihn für den IS anwerben möchte.

War „Fatma“ noch eine eher nette Familiengeschichte, macht Montag in „Kabir“ das, was ich schon bei „Wider deinem Nächsten“ an ihm schätze: er stellt die Verhältnisse auf eine schiefe Ebene, auf der sich alles überschlägt. Das dramatische Ende, das ich nicht vorwegnehmen möchte, kommt unausweichlich und macht neugierig auf die Fortsetzung.

Mein Fazit: ein gut geschriebenes und leicht lesbares Buch, mit viel Spannung, Hintergrund und guter Unterhaltung.
Für meinen Geschmack umarmen sich die Protagonisten zu oft, Rechtschreibfehler bleiben im erträglichen Maß.
Von mir gibts volle Punktzahl für ein gewagtes und gelungenes Werk.

 

 

 

Clemens Meyer, Als wir träumten

Nein, es geht nicht um Traumdeutung, ist auch kein verklärter Rückblick. Leipzig, Wendezeit, Heranwachsende; Kleinkriminalität, Tekkno-Parties in einer alten Fabrik, Schlägereien. Man muss dieses Mileau nicht mögen, aber es erleichtert die Sache.

Es beginnt mit einem Rückblick auf die Schulzeit in der DDR. Dann folgen zahlreiche zeitliche Sprünge vor und zurück.
Doch jedes Kapitel -und das ist wirklich der Clou- erzählt eine in sich geschlossende Kurzgeschichte, einen Aspekt aus dieser Zeit. Man kann sie alleine lesen und stehen lassen. Doch alle diese Geschichten zusammen entwerfen ein großes, natürlich subjektives, Bild dieser Zeit. Werfen Fragen auf, lösen sie später. „Warum bist du nur so?“, die Frage der Mutter, ist roter Faden. Das „Warum“ wird aber nicht gelöst, nur gründlich beleuchtet.

Ob Abende im Keller einer dunklen, zerfallenden Wohngegend; ob nachmittags im Stadion, Spritztouren mit geknackten Autos, Ladendiebstahl ohne besonderen Grund, Selbstmitleid am Tresen - Meyer schildert gekonnt die jeweilige Stimmung. So auch die Resignation des Vaters ob der vielen Änderungen, was die Jungs natürlich noch nicht verstehen. 

Plötzlich sind über 400 Seiten vorüber, lassen einen staunend zurück, in einem Kaleidoskop dieser Zeit und der Gefühlswelt junger Männer. Die Bilder hallen noch lange nach.
Allein die Erzählweise, geschlossene Geschichten zu einem Netz zu knüpfen, Antworten zu liefern, auf Fragen die erst später gestellt werden, ohne die drängendsten Fragen freilich zu lösen - eben wie im richtigen Leben - in den Raum zu stellen und umfassend zu beleuchten, allein diese aufwändige und genial gelöste Erzählweise, macht es zu meinem absoluten Lieblingsbuch.

Dass Leipzig meine Lieblingsstadt ist, und Einflüsse der Wendezeit bis heute nachwirken, dafür kann Clemens Meyer nichts.

 

 

 

 

Mechtild Lichnowsky „Der Stimmer“

Das Klavier stimmt, die Ordnung nicht mehr

Mechtild Lichnowsky „Der Stimmer“

Durch eine Radiosendung wurde ich neugierig und besorgte mir „Der Stimmer“ im Antiquariat, original von 1917.
Und ja: Man kann es lesen.

Oktoberluft zieht durch die Kirche mit dem Polster in der Tür, in der die Orgel eingestimmt wird, und zieht den Klavierstimmer Raymund Egger in sein Lieblingshaus, dem er von aussen ganz tolle Eigenschaften andichtet.
In den folgenden drei Stunden, während er in einer Wohnung das Klavier stimmt, erfährt man ganz viel aus seinem Leben und seiner Gedankenwelt. Außerdem kommen und gehen die Bewohner, wollen ihm Dinge erzählen - er käme gar nicht mehr zum arbeiten vor lauter zuhören... Er spielt frei (möchte ein ebenso geachteter Musiker werden wie sein großer Bruder), erfindet Melodien und bewegt damit das ganze Haus. Sein Spiel ist Leben, nicht diszipliniertes Abspielen von Noten, das im Hause vorherrscht, und bringt die Gefühlslage der Bewohner in Rotation. „Nicht aufhören!“ heißt es deshalb immer. In diesem Gefühlskarrussell erfährt er auch, dass die Angebetete, Tochter des Hauses, ihn herbestellt hat, um seinem Bruder näher kommen zu können.
So schön das Haus von aussen wirkte, innen tun sich familiäre und menschliche Abgründe auf.
Nachdem das Klavier gestimmt ist, sind alle wieder mit sich beschäftigt. Ihm bleibt nur die Treppe. Und der Oktoberwind, der ihn herbrachte, schließt die Tür hinter ihm, bringt ihn (durch den gepolsterteten Türspalt) zurück in die Kirche - und den Tönen der (gestimmten) Orgel.

Das war wieder mehr eine Zusammenfassung.
Denn leider ist das Buch nur über Antiquariat erhältlich. Aber die Idee, falsche Moralvorstellungen durch drei Stunden Klavierstimmen auszuhebeln, so ganz ohne Action, war mir die Lektüre wert.  

 

 

 

Dirk Juschkat "Leise Gedanken"

Trittsicher und kurzweilig lenkt Juschkat den Blick abseits der breiten Wege, rückt Aspekte in den Mittelpunkt, an denen man sonst vorbei gehastet wäre. Doch es lohnt sich innezuhalten, und mit ihm zu schmunzeln, leiden, staunen oder amüsiert zu beobachten. Seine Sprache ist „einfach“ und verständlich, aber nicht banal. Nichts Verschwurbeltes oder Überladenes - wer etwas zu sagen hat, kann das auch leiser tun.
Es sind „nur“ kleine Momente, aber sie sind es, die den Blick schärfen und den Weg ebnen - wie das Cover es verspricht.
Ich nehme das Büchlein immer wieder gerne zur Hand.