„Der Organist von St. Albert“

Unheilvoll hallten die tiefen Töne der Orgel durchs Gebäude, begleitet vom tiefen Grollen des Donners. Das ganze dunkle Gebäude schien in diesem infernalen Rhythmus zu schwingen. Ein tiefer Moll-Akkord wurde über mehrere Sekunden gehalten, die muffige Luft im Gebäude begann mit ihm zu vibrieren. Flackerndes Licht fiel auf das Gesicht einer Engelsfigur, ließ sie leicht irre und überheblich grinsen. Dumpfes Donnerrollen mischte sich atonal zur Musik, wanderte mehrere Male durch das hoch aufragende Kreuzrippengewölbe, zurück zum Boden, wieder hoch, um sich in den Weiten des Gebäudes zu verlieren.
Ich wollte entkommen, wusste nicht wohin. Draußen tobte ein fürchterlicher Sturm, der mich hier reingetrieben hatte. Schwer prasselte der Regen aufs Dach, lieferte sich einen Wettstreit mit der Orgel. Diese ließ ihm den Vorrang und spielte wieder Läufe in höheren Tonlagen. Verstört und vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, tastete mich in Richtung Hochaltar vor, in der albernen Annahme, dort dem Grauen ferner zu sein. Grell blitzendes Licht von draußen, dem kein Donner folgte, brachte meinen Blick zu einem Spruch, der über dem Schriftenstand angebracht war. Das Licht reichte gerade zum entziffern.
„Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
Matthäus 25, 40.

Ein zweiter, greller Blitz beleuchtete eine Figur über mir, die sehnend oder bittend ihre Arme ausstreckte. Als Donner die Mauern zum vibrieren brachte, versank sie in Dunkelheit.
„Bruder, hast du für mich bitte …“, hatte mich der Obdachlose im Eingangsbereich angebettelt. Aus Prinzip war ich schnell, ohne ihn zu beachten, ins Innere der alten Kirche gegangen.
Alle Kneipen waren bereits voll mit Leuten, es herrschte großer Andrang, da sich jeder vor dem plötzlich einsetzenden Starkregen an irgendeinen trockenen Ort flüchten wollte. Auch mir wäre das lieber gewesen, doch die meisten neuen Gäste waren abgewiesen und wieder auf die Straße geschickt worden, da alle Plätze bereits besetzt waren. Da war mir das Portal der alten, gotischen Kirche aufgefallen. Ich hatte die schwere Tür probiert und Einlass gefunden. Den unvermeidlichen Obdachlosen am Eingang hatte ich dabei ignoriert. Vor jeder Kirche gab es mindestens einen, der dort Schutz vor Niederschlag suchte, und sich von jedem Besucher eine milde Gabe erhoffte.

Die wenigen anderen, die sich ebenfalls vor dem Sturm in diese Kirche geflüchtet hatten, hatten es genauso gehalten. Wo waren sie mittlerweile? Ich fand mich alleine hier drin wieder. Hatten sie das furchtbare Gewitter diesem Gebäude vorgezogen? War es das Orgelspiel gewesen, das sie vertrieben hatte? Der Organist hatte auch genug schlechten Humor bewiesen, Bach’s Toccata ausgerechnet mitten in einem Donnersturm zu spielen.

Als die Musik endete, zog ein kurzer Luftzug durchs Gebäude, als entwiche Atem. Kam er von der verstummten Orgel? Von so etwas hatte ich noch nie gehört. Einige der Kerzen wurden von ihm gelöscht, aber nicht alle. Abermals erleuchtete ein Blitz das Innere des Gebäudes für Sekunden und Bruchteile davon. Mein Blick fiel in dieser Zeit auf die Figur eines Mannes, vielleicht Heiligen, der freudig nach oben blickt. Hinter mir verließ der Organist seine Orgel auf der Empore, kam die Treppe nach unten. Der nächste Blitz ermöglichte mir einen kurzen Blick auf ihn. Und das bildete ich mir nur ein, im fahlen Licht des Kirchenschiffes? In dieser spärlichen Beleuchtung sah es aus, als käme ein Körper mit Totenschädel auf der Treppe herunter. Laut krachte der Donner und hallte wider. Erschrocken zuckte ich zusammen, und wendete den Blick von ihm. Was ich wieder sehen konnte, wenn auch nur im flackernden Licht der verbliebenen Kerzen, war, dass er auf den Beichtstuhl zuhielt und darin verschwand. Letzteres konnte ich nicht genau erkennen, hörte allerdings das leise Quietschen der Scharniere. „Beichte / Confessions“, stand auf einem Schild davor. War es vorhin schon dort gestanden? Seit wann gab sich die Kirche zweisprachig? Das Wort ‚Confessions‘ ließ sich auch mit ‚Bekenntnisse‘ übersetzen, was bei einer Beichte irgendwie auch der Fall war. Was mich der nächste Lichtblitz erkennen ließ, konnte – ja, wollte ich nicht glauben. Dieses Wesen trug tatsächlich einen Totenschädel auf seinem Körper, hatte den Vorhang des kleinen Türfensters zur Seite geschoben, und schaute aus dem Beichtstuhl heraus. Hastig und panisch sah ich mich um. Abermals grollte Donner durch die Luft. Im dämmrigen Licht konnte ich nirgends einen anderen Menschen hier drin erkennen. Ich musste raus hier, und zwar schnell! Der einzige Weg nach draußen führte an diesem Beichtstuhl vorbei. Was sollte ich tun? Ich versuchte klar zu denken, was mir nicht möglich war. Immer wieder blitzte und donnerte es. Bildete ich mir einzelne Fetzen der Orgelmusik nur ein, die ich ab und an leise hören konnte? Oder waberten sie tatsächlich durch die alten Säulengänge? Ich musste einfach weg! Doch wie kam ich an dem Geist vorbei? Sollte ich ihn ansprechen, oder besser nicht? Was war in solch einer Situation am besten zu tun?

Stand die Antwort bereits irgendwo? Der Bibelspruch über Unterstützung der geringsten unserer Mitmenschen, den ich eingangs lesen durfte? Oder was Wort ‚confessions‘ auf dem Schild?
Während ich die ersten, zaghaften Schritte Richtung Ausgang unternahm, kam mir eine Idee, die mir in diesem Moment brillant erschien. Ich hielt unerschrocken auf den Beichtstuhl zu, rief diesem seltsamen Geist etwas zu, das er als Gruß, Erklärung und Bekenntnis auffassen konnte. „Ich gehe jetzt zu dem Obdachlosen am Eingang, und gebe ihm viel Geld!“, rief ich im Vorbeigehen. Was war ich gespannt, als ich ihn unbeschadet passiert hatte, und die alte, schwere Tür, durch deren Ritzen das dämmrige Abendlicht von draußen herein drang. Da waren noch Worte, einer männlichen Stimme, die zwar nach einem mittelalten Mann, allerdings nicht gruselig klang. Hatte er das wirklich gesagt? „Bei Gewitter träumt man schlecht“, drangen die Worte an mein Ohr. Schwer fiel ich auf die alte, gusseiserne Klinke, konnte sie öffnen und die Türe ziehen. Ich schritt durch das finstere, gotische Portal nach draußen – und hatte es geschafft! Schwer fiel sie nach mir zu. Der Obdachlose im Eingang fehlte – mitsamt Schlafsack und seiner wenigen Habe.

Verstört lief ich durch die Straßen, an allen Kneipen vorbei. Endlich konnte ich meiner Anspannung Luft machen. „Ah!“, schrie ich aus tiefster Kehle. Es fühlte sich richtig und gut an. Ich wollte es einfach nur rauslassen, bevor ich noch ganz durchdrehte. Die Leute zeigten sich mehr als davon verstört. Verängstigt gingen sie mir aus dem Weg, suchten das Weite. So fühlte es sich also an, von allen gemieden zu werden.
Mein Schritt war schneller, als es mir recht war. Verwundert wichen mir die Passanten aus, ließen mich durch, nahmen wohl an, ich hätte es eilig. Ohne zu denken ging ich, soweit mich meine Füße trugen. Nach einer gefühlten Stunde stand ich in einem Park, in einem Stadtviertel, das ich nicht kannte. Der Regen hatte aufgehört, hier wirkte es halbwegs trocken, als wäre nur ein leichter Schauer vorbei gekommen.
Auf einer der Bänke lag ein Obdachloser, schlief nicht, stand nicht auf, lag einfach nur in seinem Schlafsack.
Langsam hielt ich auf ihn zu, grüßte ihn, kramte in meinem Geldbeutel, hielt ihm einen Schein entgegen. Es dauerte eine ganze Weile, bis überhaupt etwas passierte und er mich fragend ansah. „Bitte“, meinte ich auffordernd. „Für etwas zu essen, meinetwegen auch Schnaps … Ihr habt es ja nicht leicht …“ Als ich noch abwog, ob ich ihm von meinem grotesken Erlebnis erzählen sollte, Ober ob ich mich dadurch völlig unzurechnungsfähig machen würde, kam ein wenig Leben in sein Gesicht.
„Also …“, begann er, zog die Beine an, um mir Platz auf seiner Bank anzubieten. Ich setzte mich zu ihm. „Geld ist … nett“, krächzte er. Seine raue Stimme verriet mir, dass er lange nicht mehr geredet hatte. „Ein wenig Zeit wäre auch schön … Einfach nur … fragen, zuhören …, ohne gleich zu werten …“
„Klingt nicht schwer“, meinte ich.
„Etwas zu essen? Ja, das wäre schön. Vielleicht sogar eine warme Mahlzeit, etwas Gesundes …“
„Hm …“, murmelte ich.
„Und wenn du ganz verrückt bist, freue ich mich, an kalten Tagen, über einen Platz in deiner Garage.“
„Mh …“
„Die Krönung wäre: deine Postadresse. Dann könnte ich den Behörden schreiben, und wäre für sie postalisch erreichbar. Womit ich wieder existiere …“

Ich weiß nicht mehr, wie ich gestern Abend nach Hause gekommen bin. Nachdem ich wach lag, hörte ich die Glocken der Kirche vier Uhr schlagen. Ich beschloss aufzustehen, mir Kaffee zu machen und aufzubleiben. Ganz schön früh für einen Sonntag. Mit dem Morgengrauen verlor die Nacht ihre Bedrohlichkeit.
Was war wahr? Hatte ich den Obdachlosen am Kirchenportal gesehen, die Orgel gehört, Geister gesehen, den Obdachlosen im Park gesprochen? Oder war alles geträumt und eingebildet?
Auf meinem Smartphone kamen die neuesten Nachrichten. Schweres Gewitter, das gestern über die Stadt gezogen war, hatte zwei Todesopfer gefordert, mehrere Überflutungen und Zugausfälle verursacht.

Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich Dinge bewusst wahr. Den frischen Kaffee, die Stille des Morgens, das Dach über meinem Kopf, den Luxus eines weichen Bettes. Ich konnte mir etwas zu essen und zu trinken holen, oder auf Toilette gehen, wenn ich das Bedürfnis verspürte. Ich lebte im Paradies.
Und ja: in der Garage war tatsächlich noch Platz, sogar im Flur. Mein Bad war nicht mehr richtig sauber, seit ich alleine lebte – ein Dusch-Gast konnte es also nicht gänzlich ruinieren. Und ein zweiter Postkasten am Tor war das geringste Thema.

Von fern drangen ein paar Takte Orgelmusik durch die Morgenluft. Bach’s Toccata – ich erkannte sie gleich.

 

Ideen dazu hatte ich schon lange gesammelt. Bei einem Stopover in Köln hatte ich dann die Story komplett durch geplottet, so dass ich sie wenige Monate später runterschreiben konnte.

 

Sie wird Einzug finden in den 3. und letzten Band (noch in Entstehung) der Sammelband - "Trilogie": "Erkundungen sind kein UmwegLINK

 

Freu Dich drauf!

 

 

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