Eine kleine, phantastische Zeitreise ins Jahr 1995, der Hochphase des Grunge-Rock

Samstag, 22:40, im Wohnheim
Oder: Wenn das hier die helle Seite ist, muss ich mal kurz weg

Was ist eine Party mit Salzstangen, Limonade, Säften, alkoholfreiem Weißbier und der Musik von Vangelis und der Kelly Family? Richtig: eine Party von BWL-Studenten.
    Ich hatte meinen Kumpel C in Regensburg besucht. Es klang nach einer günstigen Möglichkeit, diese schöne alte Stadt zu erkunden. Fahrt mit dem Bummelzug, schlafen und kochen bei ihm, spart Geld für Kneipenbesuche. ‚Wohnheimparty‘ klang auch nicht schlecht – billig Bier und Knabbereien abgreifen, und dafür interessante Leute treffen. Aber das hier, naja, das hier – da war es auf Kindergeburtstagen noch lustiger.
Nach dem siebten Gespräch „Und was machst du so?“, oder lustigen Erzählungen über Professoren und Vorlesungspannen, für die man wohl dabei gewesen sein muss, um sie lustig zu finden, bekam ich Sehnsucht nach schwarzem Humor, schlechter Musik und vielleicht noch einer Flasche Bier.
Dazu fielen mir zwei Möglichkeiten ein. Erstens: auf Toilette gehen, mich dabei abseilen und in eine Kneipe gehen. Oder zweitens: das Wohnheim erkunden. Ich erkannte darin keinen Widerspruch, und beschloss, mich im Gebäude umzusehen, und bei Misserfolg eine Kneipe aufzusuchen.
„Wo gehst du hin?“, fragte mich eine hübsche Studentin.
„Kurz auf Toilette“, erwiderte ich.
„Pass auf, dass du nicht in den falschen Spiegel schaust“, gab sie mir verschmitzt grinsend mit auf den Weg. Das war mal eine erfreuliche Abwechslung zur ansonsten bemüht wirkenden Stimmung. Kurz überlegte ich, ob ich bleiben und mich mit ihr unterhalten sollte – doch mein Entschluss stand.
 
„Da hinten ist bestimmt ein anderes Treppenhaus“, dachte ich mir nach Toilette, und ging einen düsteren Gang entlang, der an Zimmern der Studenten vorbeiführte und durch Fenster spärlich aus dem Innenhof beleuchtet wurde. Es gab tatsächlich eine andere Treppe da hinten, ich schlüpfte durch die Glastür, ging leise die Stufen nach oben, während der Schließer unten langsam die Tür in ihren Rahmen zurück zog.
Einen Stock höher zögerte ich kurz, knobelte über die einzuschlagende Richtung der drei sich mir anbietenden Gänge, und entschloss mich spontan für geradeaus – weg vom Innenhof, tiefer hinein ins Gebäude. Als ich das dumpfe Dröhnen von Rockmusik vernehmen konnte, fühlte ich mich in meiner Wahl bestätigt. Mit jedem Schritt wurde sie ein wenig deutlicher wahrnehmbar. Ich kam an eine weitere Tür, die wohl nur aus Feuerschutzgründen den Gang trennte. Vorsichtig schob ich sie ein Stück weit auf, lugte durch den Spalt. Ich konnte kaum glauben, was ich da sah – es wirkte wie ein kleines Paradies: Leute hüpften herum, vor und zurück, und über die Musik blieb kein Zweifel mehr – sie hörten Grunge, und zwar laut. Vorsichtig näherte ich mich, legte mir Sprüche und Erklärungen zurecht, wusste nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte.


Dann ging es schnell. Einer der Jungs legte mir seinen Arm um die Schulter, zog mich mitten in ihre kleine Tanzfläche und ich sprang mit ihnen herum. Wie bei harter Gitarrenmusik üblich, näherte sich einer der Jungs zu meiner Rechten, wir nahmen Blickkontakt auf, nickten uns kaum wahrnehmbar zu, wie eine stumme Verabredung. Mit dem nächsten Sprung flogen wir aufeinander zu, unsere Oberarme kollidierten, wir prallten leicht voneinander ab und hatten Spaß dabei. Kurz darauf das Gleiche von links. So blieb kein Zweifel: ich war willkommen und bereits mittendrin. Die beiden jungen Frauen wurden selbstredend von diesen brutalen Späßen ausgenommen. Eine von ihnen war, zu meiner großen Überraschung, die lustige Studentin, die mir unten geraten hatte, nicht in den falschen Spiegel zu schauen. Kurz lächelte sie mir  zu, bevor sie wieder ihr langes Haar herumschleuderte.
Als die CD zu Ende war und gewechselt wurde, gingen die Jungs zu ihren Flaschen, schlugen sie zum Prosit zusammen und tranken. Ich wurde dazu gerufen, zeigte ihnen leere Hände. „Gebts eahm a Flaschl, damit a mit uns ostoßn ko!“, hieß es. Kurz darauf hatte ich auch eine in der Hand, wir stießen nochmals an. Kurz wunderte ich mich über das Etikett, hielt es für die Marke einer kleinen lokalen Brauerei. Die nächste CD begann, einer dimmte das Licht zurück und die wilde Feier ging weiter. Ich freute mich, dass ich hierher gefunden hatte.

 



Zwei Stunden später machte sich Erschöpfung breit. Auch die letzten Tänzer setzten sich und träumten vor sich hin. Mir fiel die Feier der Betriebswirte ein, und wollte sichergehen, dass C noch wach war – nicht dass ich mich ausgesperrt wiederfand und mir die Nacht auf irgendeinem Gang um die Ohren schlagen konnte! Ich verabschiedete und bedankte mich bei ihnen, was niemanden zu interessieren schien, mit meiner zweiten Bierflasche, noch halb voll, die ich von ihnen bekommen hatte – was ebenfalls nicht zu interessieren schien.
        Die Trenntür fiel hinter mir ins Schloss. Auf einmal war es ganz still – so still wie zuvor nicht, es wirkte fast unheimlich. Kurz machte ich mir Sorgen und wollte zurück, um nachzusehen. Doch die Tür war verriegelt, ließ sich nicht öffnen – obwohl sie die ganze Zeit unverschlossen gewesen war, es als Fluchttür auch nicht sein konnte. Kurzentschlossen blickte ich durchs Schlüsselloch. Zu meiner Überraschung war es groß, wie bis in die 1960er Jahre üblich, womit ich den ganzen Bereich sehen konnte. Ein Schlüssel fehlte. Dort, wo wir eben noch gefeiert hatten, waren keine Menschen, kein Bierkasten, nicht mal der CD-Spieler war zu sehen. Im fahlen Schein der Notbeleuchtung sah ich nichts als leeren Raum. War alles nur ein Traum gewesen? In meiner Linken hielt ich immer noch meine Bierflasche – die mir versicherte, dass es kein Traum gewesen war.
 
Zu meiner Erleichterung hatte sich bei der Wohnheimparty der Betriebswirte kaum etwas verändert. Die Musik hatte ein klein wenig Fahrt aufgenommen, immerhin waren sie schon bei Roxette angelangt. Sie standen zu Gesprächen beisammen, tranken bereits Saft mit Sekt gemischt, knabberten Salzstangen, und unterhielten sich nach wie vor über Berechnungsmethoden und wirtschaftliche Einflussgrößen.
Einer aus ihrer Runde bemerkte meine Flasche. „Oh, die Schlossbrauerei Etterzhausen“, kommentierte er wissend. „Wisst ihr, warum sie 1971 vom Markt verschwinden musste?“, fragte er in die Runde. Sie hatten ein neues Thema gefunden – ein schönes Beispiel, an dem sich ihre Theorien bestätigten.
Die lustige Studentin, die ebenfalls auf der Grunge-Party gewesen sein musste, sah herausfordernd zu mir herüber. Ihr Haar hing offen und ungeordnet herab.
„Ich war am linken Waschbecken, und habe da in den Spiegel geschaut“, berichtete ich ihr.
„Der ist genau richtig. Jetzt gehe ich mal auf Toilette“, meinte sie gutgelaunt. „Mal schauen, was mir da so alles passiert ...“ Sie verließ den Raum durch die gläserne Schwingtür, spazierte federnd den Gang vor den Zimmern entlang, und war bald nicht mehr zu sehen. Keine der Türen hatte sich bewegt – das hatte ich genau beobachtet. Sie hatte einfach die sichtbare Welt hinter sich gelassen, dessen war ich mir sicher.
 

 

 

Andere Geschichten aus dieser Zeit (weniger phantastisch, dafür lustiger) habe ich hier für euch zusammengefasst:

 

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