Lost in Seoul 3 (Walking Tour)
Seoul Subside Tour

 

„Ziel erreicht.“ Ein abgerockter Hauseingang eines grauen Hochhauses aus den Siebzigern, das unbewohnt aussieht. Nirgends eine Klingel, der Postkasten quillt seit Jahren über, herumliegende Abfälle und jede Menge Aufkleber. Das soll es sein?
    Da ist ein neuer Aufkleber auf der Tür, mit einem Spruch: „Wisdom is Art of art friendship“ .

Was bitte soll das heißen? Und eine E-Mail-Adresse steht dabei.
Ich warte mal, ob jemand kommt. Alle Passanten laufen vorbei, schauen mich höchstens mitleidig an. Aus Langeweile spiele ich an meinem Handy herum. Wenn ich auf und ab gehe, will es mich zurückschicken, direkt an die Tür. Hm. Ich beantworte die SMS von Lee, der mir diese Koordinaten geschickt hat. Einen Stadtrundgang hatte ich gebucht: „Seoul Subside Tour – die andere Seite der Megacity“. Gibt es weitere Teilnehmer? Jeder läuft hier nur vorbei, keiner bleibt stehen.


    Die Antwort-SMS kommt. „Sehr gut.“ Ja, das bin ich. Noch eine: „Schau zur Tür. Schick E-Mail.“ Das ist seltsam, aber ich wollte etwas Ungewöhnliches sehen. Ich gebe die Adresse ein, die ich auf dem Aufkleber sehe. „Bin da. Was soll ich tun?“
Sofort kommt die Antwort. Ein längerer Text, auf schönem Hintergrund, der ein wenig an eine alte Schriftrolle erinnern soll. Dass die Nachricht so schnell kam, kommt mir vor, als wäre es eine standardisierte, automatisierte Antwort – wie eine Abwesenheitsnotiz.

 

 

„Über die letzten Jahrtausende hat Seoul viele stolze und glorreiche Momente erlebt, daneben auch einige schattige Zeiten. Beide Seiten sind interessant zu erforschen.
    Du hast Dich für die weniger glamouröse Seite entschieden. Sei bereit für spektakuläre Entdeckungen aus der Tiefe unserer Geschichte!“

Ah ja, das klingt interessant. Aber was mache ich mit dieser Information? Oh, da kommt noch ein E-Mail, mit einer Adresse und Koordinaten. Ich gebe sie in die Navi-App ein und gehe dort hin.
Elfter Stock hieß es. Ich steige in den Fahrstuhl, und drücke … äh … auf die … Zehn. Höher geht es nicht. Vielleicht die Sache mit „Erdgeschoss = First Floor“? Im zehnten Stock des Hauses angekommen, sehe ich mich um, finde keine offene Wohnungstür – dafür eine, die ins Freie führt. Dort gibt es eine Treppe nach oben, zu einer einzelnen Dachgeschosswohnung. Das muss es sein. Es gibt keine Klingel, und die Wohnung sieht verlassen aus.

 

 

Unschlüssig sehe ich mich um, finde einen Monitor. Er schaltet sich ein, beginnt zu flackern, spielt Musik und Bilder ab. Immer wieder stehen ein paar Sätze auf englisch dabei.

„Im Jahr 18 v. Chr. wurde Seoul die Hauptstadt des Reiches Baekje, gegründet von König Onjo. Viele gebildete und noble Leute zogen in die Stadt. Auch manche mit nicht so noblen Absichten …
Nach dem 2. Weltkrieg überschritt die Einwohnerzahl die Millionengrenze, heute zählt die Stadt zu den größten und am dichtest besiedelten Metropolen der Welt. Kontinuierlich wuchs die Bevölkerung auf heute 10 Millionen Menschen in der Stadt, und etwa 25 Millionen in der gesamten Agglomeration. Die meisten von ihnen zogen vom Land zu, in der Hoffnung auf gute Arbeit und Aufstiegsmöglichkeiten. Für viele erfüllte sich ihr Wirtschaftswunder-Traum. Doch die Wirtschaft und der Wohlstand wuchsen unaufhörlich weiter. Wer in Ruhestand ging, bekam seine Rente – während Preise und Mieten weiter stiegen. In den Straßen kannst Du sie sehen, Pappe sammelnd und auf ihrem Wagen stapelnd, um sich etwas dazu zu verdienen.
Unsere Brüder und Schwestern aus dem kommunistischen Norden kommen ebenfalls hierher, hoffen auf ein besseres Leben. Mangels Ausbildung und Akzeptanz, bleibt ihnen nur, sich an Touristen zu wenden. Als buddhistische Mönche verkleidet sammeln manche angeblich Spenden für einen Tempelneubau, geben ihnen wertlose Gebetsringe dafür, und sind schnell weg, immer auf der Flucht vor der Polizei.
Es gibt noch mehr Volk, das im Verborgenen lebt. Lass Dich nicht blenden von der Glitzerwelt! Gehe weiter zu [Adresse]. Weil Du bis Ende gelesen hast, öffnet sich nun der Getränkespender für Dich.“

 

Ich nehme mir eine Dose mit einem Softdrink. Viel Auswahl habe ich ohnehin nicht.
Im Anschluss erscheint die Adresse meines neuen Ziels am Monitor.

„Na toll“, denke ich mir. „Das hätte ich selber auch hinbekommen.“ Hoffentlich wird’s noch interessant. In den Straßen sehe ich eine alte Frau, die Pappe auf ihrem Wagen schiebt.

Bei der nächsten Station fahre ich wieder nach oben und gehe raus aufs Dach. Wieder steht ein Monitor für mich bereit. Diesmal scheint der Sensor zu fehlen, ich soll auf einen Knopf drücken, der wie ein Notausschalter aussieht. Wieder läuft eine Präsentation.

 

 

„König Taejo (Joseon) verlegte 1394 die Hauptstadt, von Kaesong, nach Seoul. Vorausgegangen waren geomantische Untersuchungen. Geomantie war eine verbreitete Lehre für Baumaßnahmen, damit Himmel und Erde in Harmonie gehalten werden.

Zeitgleich ließ er den Jongmyo-Schrein zur Ahnenverehrung errichten.
Der beste Weg dort ist reisenden Seelen vorbehalten. Ein Mal im Jahr wird in einer Zeremonie der Ahnen gedacht, dabei werden die Geister begrüßt. An jedem anderen Tag können sie frei umher fliegen. Vielleicht kannst Du sie wahrnehmen?

Zum Hofe Taejo gehörten 80.000 Sklaven. Ihre Geister kannst Du möglicherweise auch sehen. Wenn Geister in Bäumen leben, hinterlassen sie manchmal Spuren. Schau genau hin!“ 

Als kleines Dankeschön bekomme ich einen 2000-Won-Gutschein (1,60 EUR) für einen Coffeeshop. Ein Kaffee kommt mir sehr gelegen, auch wenn ich dazu noch etwas zuzahlen muss.

 


Wieder vor einer Dachwohung. Auch diesmal muss ich selber auf den Knopf drücken.


„In der Stadt leben viele Tiere. Ein großer Teil von ihnen ist sichtbar, viele leben, ohne von uns gesehen zu werden, und manche wirst Du nur schwer zu sehen bekommen.

Inari (Füchse) sind öfter anzutreffen, als man vermuten würde. Sie können ihre Gestalt ändern, auch menschliche, reden, und ein fast normales menschliches Leben führen. Ihr Lebensraum wurde von der Stadt eingenommen: Hochhäuser statt Bäume, Asphalt statt Wiese. Außerhalb der Stadt gibt es andere Füchse, die ihre Reviere bereits abgesteckt haben. Blieb ihnen nur, sich dem Leben in der Stadt anzupassen – was ihnen perfekt gelungen ist.

Ameisen erging es ähnlich. Manchen ihrer Staaten blieben Parks, Wiesen, oder zumindest Blumenkübel. Anderen wurde das gesamte Revier planiert. Sie machen sich über Krümel und Reste her, die auf dem Boden landen.

Schlimmer dran sind Frösche. Wo einst Bäche oder Seen waren, müssen sie neue Feuchtigkeits-Quellen finden. Immer wieder landen Eiswürfel aus Getränkebechern am Boden, auf die sie sich begierig legen.

Öffne Deine Augen – vielleicht wirst Du sie, oder manch andere, entdecken!“ 


In den Straßen halte ich die Augen offen, um etwas von den gezeigten Sehenswürdigkeiten zu finden. Leider vergebens.
Ein letztes Mal soll ich hoch zu einer Dachwohnung. Finde den Monitor, suche nach dem Knopf. Stattdessen kommt, ich lasse fast alles fallen vor Schreck, ein Mensch aus der Wohnung. Der junge Mann ist noch verstrubbelt, sieht aus, als wäre er gerade aufgestanden. „Nicht schlecht“, denke ich, „um halb drei nachmittags.“

 


„Hallo. Magst Du’n Kaffee?“, fragt er mich. „Er ist gerade fertig.“
Dankend nehme ich an. Er zündet sich eine Zigarette an, steht mit zusammengekniffenen Augen in der Sonne, nimmt einen tiefen Zug und geht dann in den Schatten. Ich nehme einen Schluck, und staune. Es ist der erste Kaffee in Korea, den ich bekomme, der auch nach Kaffee schmeckt. Keine Milch-Shake, sondern schwarz und kräftig.
„Ich kann nicht glauben, dass jemand die Tour bucht. Das Angebot steht seit zwei Jahren. Du bist der Erste, der sich angemeldet hat.“
„Hast Du die Tour alleine organisiert?“
„Nein, mit den Band-Kollegen. Du warst vor ihren Wohnungen.“
„Schlafen die alle noch?“
„Möglich. Wahrscheinlicher ist, dass sie in der Arbeit sind.“
„Habt ihr alle Dachwohnungen? Ist das ein Markenzeichen der Band?“
„Ja, wir wohnen alle ganz oben. Das ist günstiger, kein Witz. Dafür haben wir auch weniger Luxus. Also: ganz oben zu wohnen, ist an sich nicht günstiger. Aber du hast ja unsere Hütten gesehen. Willst Du auch Croissants? Ich backe welche auf.“
Ich nehme dankend an, er startet mir den Film.


„Popmusik aus Korea, kurz K-Pop, verkauft sich unwahrscheinlich gut, und ist ein echter Exportschlager. Alle Plakatwände, Radios, Fernsehkanäle und Shops sind voll damit, ständig entstehen neue Bands, es hört nicht auf. Das Casting einer neuen Band ist ein Auswahlverfahren, das im Fernsehen ausgestrahlt wird. Producer machen Musik für die zusammengestellte Gruppe, sie üben Tänze ein, der Song wird in den Markt gedrückt. Die Titel verkaufen sich in ganz Asien gut.
Auf der dunklen Seite hingegen ist es überschaubar. In Busan gibt es ein paar Bands, die ein wenig experimentieren, sogar eine Handvoll Punk-Bands soll es geben, die nur live zu hören sind.
Hier in Seoul gibt es DOMA (Dungeon of Master Ash), die einzige Band, die astreine Underground-Musik macht.
Gleich kannst Du einen exklusiven Track hören. Die CD gibt es übrigens hier zu erwerben. Sie ist original signiert.“

Tief wummern Bass und Gitarre, ich höre aber kaum Melodie. Es klingt eher wie ein Brei, ein wenig gleichförmig.
„Gefällts dir?“, fragt er mich.
„Ja.“
„Du kannst die Single hier kaufen. Von allen signiert.“
„Wieviel?“
Er nennt mir den Preis, nicht schlecht, nicht gut. Ich kaufe sie, mehr aus Verlegenheit denn aus Gefallen. Rein aus Verlegenheit.

„Ich dachte, ihr führt die Leute herum, wie bei einer der üblichen Stadttouren? Nur eben an besondere Plätze ...“ Ich bin neugierig.
„Dazu müssten wir Zeit haben, oder tagsüber wach sein. Das größere Problem ist: diese „besonderen Plätze“ sind nicht sehr langlebig. Ständig werden Häuser abgerissen und neue gebaut. Das Wachstum der Stadt kennt keine Grenzen. Nur die alte Kultur wird erhalten, und da sind die ganzen Anbieter und Touristen ohnehin schon. Also haben wir uns eine Multi-Media-Tour mit Ausblick ausgedacht. Wie findest du sie?“
„Der Inhalt ist interessant. Nur die gezeigten Orte kann ich nicht finden.“
„Siehst du. Und selbst wenn wir die Tour führen wollten, müssten wir durch die ganze Stadt. Dann fahren wir mehr U-Bahn, als irgendetwas zu sehen. Vielleicht kommt dir etwas davon zufällig über den Weg, dann kannst du an uns denken.“

Das Telefon klingelt, er entschuldigt sich und geht ran. Ich winke und stehle mich davon.
Nach einer vierzigminütigen U-Bahn-Fahrt steige ich aus, und spaziere durch einen Park.

Ein Pappbecher, der neben dem Abfalleimer liegt, hüpft ein Stück vor mir zurück. Ich bücke mich hinunter, schaue vorsichtig rein, und sehe einen Frosch, der sich an einen Eiswürfel klammert.
Danach schaue ich hoch, sehe knorrige Bäume den Weg säumen. In einem von ihnen erkenne ich ein Gesicht, skuril und verzerrt, wie ein im Baum steckender Geist.
    Ein alter Mann greift nach der CD von DOMA, will sie „nur mal anschauen“. Kaum in der Hand, humpelt er schon mit ihr davon. Schnell ist etwas anderes. Soll er sie zu Geld machen, da bin ich auch ganz froh.

 


„Gleich kommt der Zug“, meint meine Frau.
Ich beende diese Geschichte und packe meine Sachen. Die letzten 40 Minuten haben wir in einem Coffeeshop am Bahnhof verbracht, bis der Zug nach Busan kommt. Ich bringe die leeren Pappbecher zum Abfalleimer. Mein Becher versprach mir „eine ganz neue Erfahrung“. Ich habe daraufhin irgendwas in meinen Block geschrieben.

 


„Was habe ich da nur getrunken?“, frage ich mich heute, als ich die Geschichte von damals abtippe.

 

 

 

 

Diese irre und fiktive Story ist ein "Spin Off" und inspiriert von Seoul, Südkorea:

https://wortlaterne.jimdo.com/reiseberichte/s%C3%BCdkorea-2019-white-edition/